Netzkunst, die vergangene Avantgarde

Von Guido Hirschsteiner

Vortrag in Wien am 04. März 2010.

Meine Damen und Herren - Sie wissen, dass diese Ausstellung eigentlich gar nicht stattfinden dürfte, wenn man Netzkunst ernst nimmt?

Warum, das will ich Ihnen heute Abend erklären.

Fangen wir an mit der Mitte der 1990er Jahre:

Im Rückblick können wir sagen, dass die Werke der Netzkunst oder net.art tatsächlich eine Avantgarde waren, die zwar nur über wenige Jahre, dafür aber international wirksam war.

Wenn ich im Folgenden von Netzkunst rede, meine ich Netzkunst im eigentlichen Sinne. Ein digitales Bild, das im Internet steht, ist nicht automatisch Netzkunst, sondern vielleicht Kunst im Internet. Eigentliche Netzkunst dagegen ist nach einer verbreiteten Definition: Kunst, die sich im Internet mit dem Internet auseinandersetzt.

Auch das ist übrigens schon ein Merkmal der Avantgarde als einer Gattungsbezeichnung, dass sie selbstreferenziell ist - sich mit sich selbst beschäftigt, genauso wie beispielsweise in der Malerei die impressionistische Avantgarde, die über eine bis dahin nie gesehene Maltechnik eine neue Ausdrucksweise gewonnen hat, eine neue Sicht auf das menschliche Empfinden.

Damit alle einen Eindruck haben, wie Netzkunst eigentlich ausgesehen hat, möchte ich Ihnen drei Werke exemplarisch vorstellen.

Beginnen möchte ich mit einem Werk aus dem deutschen Sprachraum, „Antworten" von Holger Friese, der heute in Berlin wohnt und arbeitet und Kax Kossatz, der hier in Wien seinen Blog „Wissen belastet" betreibt. Ist er vielleicht sogar hier?

www.antworten.de

Hat man diese Seite aufgerufen, zeigt sich ein schwarzer Screen mit der Digitalanzeige einer Wartenummer. Anscheinend wird man persönlich bedient. Wenn man eine Weile gewartet hat, bekommt man zwei Links eingeblendet: Nach Klick auf den einen kann man etwas schreiben.

Es öffnet sich dazu das eigene Mailprogramm mit der Adresse fragen@antworten.de; oder man kann nach Klick auf einen zweiten Link etwas lesen. Es sind die umfangreichen Zugriffsstatistiken der Website, die einem präsentiert werden. Die meisten Nutzer sehen so etwas zum ersten Mal und können in der Regel damit nichts anfangen. Verlässt man eine Weile später die Seite mit den Statistiken, stellt man mit Erstaunen fest, dass währenddessen die Wartezeit abgelaufen ist, und man eine neue Nummer bekommen hat. Wenn man die Statistiken genauer angesehen hätte, wäre einem klar geworden, dass die Seite gar keine weiteren Inhalte bietet, weil nie auf weitere Seiten als die Eingangsseite und die Statistiken zugegriffen wurde.

Die Seite ist also ein Fake, das den Nutzer mit seinen Erwartungshaltungen an das Internet konfrontiert: hier gibt es auf alles schnell Antworten, lästig ist beim WWWW, dem WorldWideWait nur das ewige Warten, bis eine Seite sich mit einem 56k-Modem auf dem eigenen Rechner anzeigen lässt. „Antworten" ist also ein Werk, das sich mit den technischen Eigenheiten seines Mediums auseinandersetzt. Selbstreferentiell.

Als zweites schauen wir uns von den holländisch-belgischen Künstlern Joan Heemskerk und Dirk Paesmans alias jodi das Werk OSS an.

http://oss.jodi.org

Wenn man - ohne zu wissen, was einen erwartet - 1999 die Adresse jodi.org eingegeben hat, wird man automatisch zu OSS weitergeleitet: Das Browserfenster verkleinert sich, wird vervielfältigt und schwirrt auf dem Bildschirm herum. Meine eigene Erfahrung war es auch, dass man hektisch versucht, die umherschwirrenden Fenster zu schließen, um den Computer vor einem eventuellen Schaden zu bewahren und ihn weiterbenutzen zu können.

Dass viele Leute nicht bemerken, dass auch diese Seite beileibe nicht fehlerhaft ist oder gar einen Virus enthält, belegt ganz eindrucksvoll eine E-Mail der amerikanischen Internetfirma "ValueWeb", die Jodis Website auf ihren Servern zum Abruf bereithielt: "Wie sie wissen, enthält eine ihrer WWW-Seiten bösartiges Javascript, das den Browser abstürzen lässt... Bitte entfernen sie diese Seite, oder wir sehen uns gezwungen, ihren Account bei uns zu löschen". OSS lag übrigens gar nicht auf einem Server von "ValueWeb", sondern auf einem des Amsterdamer Providers "desk.nl", bringt auch den Browser überhaupt nicht zum Absturz, sondern enthält ein paar saubere Zeilen Programmiersprache, die geschrieben wurden, um genau diesen Effekt zu erzielen.

Auch hier steht die Internet-Technik als Experimentierfeld für ein Kunstwerk im Vordergrund.

Anders ausgedrückt: Netzkunst ist Kunst, die sich im Medium Internet mit dem Medium Internet auseinandersetzt. Sie ist Medienkunst.

Betrachtet man jetzt eine andere Möglichkeit der Selbstreferentialität, kommt man auf die Auseinandersetzung der Kunst selbst mit dem Kunstmarkt.

Damit beschäftigte sich die russische Netzkünstlerin Olia Lialina auf

http://art.teleportacia.org/

Dort gab es 1999 die "first Real Net.Art Galery". Diese Galerie für Netzkunst erweckte den Eindruck, dass man dort ebensolche kaufen könnte. Tatsächlich ist über diese Galerie nie in dem Sinne ein Werk verkauft worden, als dass es den Besitzer gewechselt hätte und jetzt in irgendeiner Privatsammlung verschwunden wäre.

Nach nur einem Jahr ging die Galerie offline, dafür gibt es seitdem ein „last real netart museum". Allerdings findet man auch hier keine umfassende Ausstellung, sondern lediglich das Werk, mit dem sie bekannt wurde „My boyfriend came back from the war", eine Art nonlinearer Bildergeschichte in verschiedenen Bearbeitungen anderer Künstler.

Wenn Sie jetzt mit diesen drei Werken nicht unbedingt etwas anfangen können, grämen Sie sich nicht: Ich habe Ihnen ja auch vorher gesagt, dass diese Seiten Kunst sein sollen. Sie hatten also schon eine gewisse Erwartungshaltung. Mit der kann aber Netzkunst nicht funktionieren. Sie braucht eine andere Situation, nämlich den Menschen, der zuhause oder im Büro vor seinem Computer sitzt und sich zum Beispiel denkt „ich will jetzt endlich eine Antwort auf meine dringlichste Frage finden!" Er gibt den Begriff „Antworten" bei Google ein und kommt auf die Seite von Holger Friese und Max Kossatz. Dass man in so einer Situation anders irritiert wird, als in einer Ausstellung, wo von vornherein klar ist, das es Kunst sein soll, ist naheliegend.

In manchen Ausstellungen ist daher versucht worden, die Computer beispielsweise in einem Wohnzimmer-Bühnenbild aufzubauen, das ändert aber am Kunst-Kontext nichts.

Netzkunst funktioniert also allein aus diesem Grund in einer Galerie oder in einem Museum nicht.

Die erste Generation der Netzkünstler hat sich dazu auch selbst immer wieder geäußert: Es waren Olia Lialina und Jodi, die wir schon kurz kennengelernt haben, außerdem Alexej Shulgin, Vuk Cosic, Heath Bunting und Rachel Baker, die seit 1996 unter dem Label „net.art" mehrmals öffentlich aufgetreten sind.

Sie alle haben immer wieder betont, dass es Ihnen um ein wesentlich freieres Werkverständnis geht, um weltweite Kommunikation, um gemeinsames Kunstschaffen und um den unabhängigen Austausch über eine neue Art der Kunstproduktion, die erst mit dem Internet möglich wurde. Es ging in der ersten Begeisterung über diese neuen Möglichkeiten des Mediums um einen Zugang für alle, ohne die Beschränkungen des Kunstmarktes, der um Geld zu generieren, die Verknappung braucht, Einzelstücke oder schlimmstenfalls limitierte Auflagen.

Was aber bei der Netzkunst allein aus einem technischen Grunde nicht möglich ist: Sobald ich mir eine Webseite anschaue, sind die dafür nötigen Daten schon als Kopie auf meinem Computer. Es gibt keine Originale, die man qualitativ von einer Kopie unterscheiden könnte, beides besteht aus denselben Nullen und Einsen.

Um auf unser erstes Beispiel zurück zu kommen: „Antworten" wurde tatsächlich verkauft, aber es wurde nicht das Werk verkauft, sondern eine Festplatte mit allen Daten, die sich auch auf der immer noch online stehenden Webseite befinden.

Diese Distanz zum alten Kunstbetrieb hat ihre Ursache aber eben nicht nur in den technischen Bedingungen der Netzkunst, sondern wurde durchaus programmatisch verstanden, und so wundert es nicht, dass die Schriften, die die ersten Netzkünstler verfasst haben, an bekannte Manifeste der vergangenen Avantgarden erinnern.

Olia Lialina beispielsweise sieht die Netzkünstler in einem Dilemma: zwar sind für sie Konferenzen die einzige Möglichkeit, auch offline etwas mit Netzkunst zu machen, sie sieht aber auch die Notwendigkeit oder den Willen eines jeden Künstlers, mit seiner Kunst Geld zu verdienen. Galerien, Ausstellungen und Museen sind aber Zugeständnisse an den herkömmlichen Kunstbetrieb.

Alexej Shulgin hat eine „Introduction to net.art" geschrieben und damit die Zeit zwischen 1994 und 1999 festgehalten. In seiner Schrift „Art, Power and Communication" schreibt er schon 1996, dass die Netzkünstler dann etwas anderes machen sollten, wenn sie zu bekannt werden: „Dont’ become a master!" war das Schlusswort seines Manifests.

Mit den großen Ausstellungen 1996 auf der Ars Electronica in Linz oder 1997 der Documenta in Kassel waren sie aber schon sehr schnell zu berühmten Protagonisten einer neuen Kunst geworden, und nach der Jahrtausendwende hatten sie dann tatsächlich das Feld auch wieder verlassen.

Kennzeichnet jetzt das Jahr, indem wirtschaftlich gesehen die sogenannte DOTCOM-Blase geplatzt ist und unzählige Anleger riesige Verluste mit ihren Internetfirmen-Aktien gemacht haben, auch das Ende der Netzkunst?

Ich hoffe, dass ich Ihnen einigermaßen anschaulich zeigen konnte, was Netzkunst im engeren Sinne war, dass man Netzkunst nicht im herkömmlichen Sinne als Kunstwerk genießen kann, dass man sie nicht ausstellen oder gar kaufen kann.

Was man aber immer noch kann, ist, über sie reden.

Und man kann feststellen, dass es Netzkünstler der zweiten Generation gibt, die zwar nichts grundlegend Neues geschaffen haben, aber den engen Wirkungsbereich der ersten Avantgarde-Generation erweitert haben und dafür sorgen, dass man sich auch heute noch auf künstlerische Art mit dem Internet auseinandersetzt. Und da gibt es einen Haufen spannender und interessanter Sachen!

Bei der Beschäftigung damit wünsche ich uns, auch bei den kommenden Vorträgen dieser Reihe hier im Künstlerhaus, ganz viel Vergnügen!